Nachdem Niragi fertig war und seine Zahnbürste zurück in die Tüte warf, konnte Izumi die Spüle der Bar benutzen, um endlich den Geschmack vom Tequila los zu werden.
Während sie sich ihre Zähne putzte, beobachtete sie ihn für einen Augenblick nachdenklich.
Er band sich gerade seine Schnürsenkel zu, die Kugel seines Zungenpiercings ab und zu zwischen seinen Lippen aufblitzend. Nur anhand seiner Kiefermuskeln konnte sie erkennen dass er damit scheinbar abwesend im Mund herum spielte.
So still wie jetzt, nach ihrer kleinen Auseinandersetzung, war er noch nie gewesen und das machte sie langsam aber sicher wirklich nervös. Was ging in seinem Kopf vor?
Izumi spuckte den Schaum ins Waschbecken und nahm dann einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, die sich dabei knisternd zusammen zog.
Von dem Geräusch aus den Gedanken gerissen, stellte Niragi seinen Fuß wieder zurück auf die Erde und warf ihr einen kurzen Blick zu.
Das Schweigen war mittlerweile unerträglich, ihr wäre es deutlich lieber, er würde sie von A-Z beleidigen, dieses untypische Schweigen trieb sie in den Wahnsinn.
Bevor sie jedoch auch nur ein Wort sagen konnte, hustete er plötzlich und spuckte das hoch gehustete Blut schließlich auf den Boden.
Für einen Augenblick schauten beide ausdruckslos auf die Blutstropfen auf der Erde, eine Erinnerung an seinen jämmerlichen Zustand, auch wenn er das mit seiner trotzigen Art bisher recht gut kaschiert hatte.
„Hast du die Tabletten schon genommen?" brach Izumi schließlich endlich das Schweigen.
Niragi schnaubte nur auf und entgegnete:
„Kann ich mir auch sparen, ich sterbe sowieso."
„Schaden können sie nicht" hielt Izumi dagegen und Niragi verdrehte die Augen.
Schnaufend stand er auf, kramte die Tabletten aus der Tüte und riss ihr die Wasserflasche aus der Hand. Als er sie runter geschluckt hatte, drückte er ihr diese wieder in die Hand und fragte:
„Jetzt glücklich?"
„Du machst mich doch immer glücklich" gab Izumi sarkastisch zurück, woraufhin Niragi nur amüsiert schnaubte.
Während Izumi ihre Zahnbürste auch zurück in die Tüte legte, warf er einen Blick aus dem Fenster. Er zog einen der Vorhänge beiseite und kniff angestrengt die Augen zusammen.
In der Ferne konnte er ein Luftschiff erkennen, das langsam aber sicher in ihre Richtung kam. Als es sich in der Luft ein wenig drehte, konnte er das Symbol des Pik-Königs erkennen und genervt zischend, schlug er den Vorhang weg und sagte dann:
„Der Pik-König kommt."
„Was?" fragte Izumi und riss die Augen auf.
Schnell lief sie zu ihm und warf ebenfalls einen Blick aus dem Fenster. Er war zwar noch nicht in ihrem Bezirk, aber darauf sollten sie auch nicht warten, mit Niragi's Bein kamen sie nur langsam vorwärts.
Nicht einmal 5 Minuten später, standen sie draußen im Sonnenlicht, während die Tür der Bar hinter ihnen zu fiel.
Izumi und Niragi warfen einen Blick über die Schulter, um zu schauen in welcher Entfernung sie zum Pik-König standen. Das Luftschiff befand sich noch immer im Shibuya-Bezirk, sie dürften also vorerst genügend Vorsprung haben, ohne panisch losrennen zu müssen.
Ein angenehmer Wind fuhr durch Izumi's Haare und lockerte die Sommerhitze auf, während sie langsam die aufgeheizte Straße entlang liefen.
Sie schmiss sich die Tüte über die Schulter und ertappte sich immer wieder dabei, wie sie einen Blick zu Niragi warf, der neben ihr lief.
Die Erinnerungen an letzte Nacht wollten sie einfach nicht in Ruhe lassen, er hingegen schien daran überhaupt keinen Gedanken zu verschwenden. Sie wusste ja auch nicht wirklich, warum sie es dann tat.
Die Fetzen einer Tageszeitung flogen an ihnen vorbei, über die Kreuzung vor ihnen, die sonst immer unglaublich überlaufen war. Jetzt war sie gänzlich verlassen, nur kleine Sandwolken fegten über die geteerte Straße.
Izumi machte gerade einen Schritt auf den Zebrastreifen, als Niragi plötzlich ruckartig stehen blieb. Sie hatte nicht einmal die Zeit nachzufragen was los war, als das Blut bereits auf den Asphalt tropfte.
Erschöpft wischte er sich mit seiner Hand über den Mund und atmete einmal tief durch, bevor er an ihr vorbei lief, als wäre nichts gewesen.
Er war zäh, aber Izumi bemerkte dass es ihm allmählich immer schlechter ging. Das Antibiotikum verhinderte dass sich seine Schussverletzung infizierte, aber alles andere war damit allein nicht in den Griff zu bekommen.
Wenn sie nicht bald aus dieser Welt heraus kamen, würde er hier mit hundertprozentiger Sicherheit sterben.
Sie setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung, ihren Blick auf Niragi vor sich gerichtet. Sie waren seit mittlerweile 20 Minuten unterwegs, als Izumi ihn wieder einholte und er wieder eine Lache Blut auf dem Boden hinterließ, langsam sichtlich erschöpft davon.
„Sollen wir eine Pause machen? Wir haben genug Zeit" schlug Izumi vorsichtig vor und warf einen Blick nach hinten, zum Luftschiff des Pik-Königs, das scheinbar langsam Shibuya hinter sich ließ.
„Ich brauch keine Pause" gab Niragi verächtlich zurück und betonte dabei das Wort ‚Pause' besonders abfällig, als wäre es etwas furchtbar Ekliges.
Izumi atmete nur genervt aus, warum fragte sie überhaupt? Sie lief hinter dem sturen Niragi her und blickte erst von der Straße auf, als sie an einem Wohnkomplex vorbei kamen und er wieder stehen blieb.
Izumi wollte bereits den Mund aufmachen, um ihn zu zwingen eine Pause zu machen, doch dann sah sie dass er seinen Blick auf den Parkplatz der Anwohner gerichtet hatte.
Ein paar der Autos standen in ihren Parklücken, einige jedoch mitten auf der Straße oder der Ausfahrt, genau in dem Augenblick stehen geblieben, in dem ihre richtige Welt in sich zusammen gefallen war.
Ohne ein Wort zu sagen, lief Niragi auf den Parkplatz zu. Er ließ seinen Blick über die Autos schweifen, ignorierte die neueren Modelle und wandte sich schließlich einem alten VW Golf mit offener Beifahrertür zu.
„Was hast du vor?" fragte Izumi, die sich neben das Auto stellte, während Niragi sich auf den Fahrersitz fallen ließ und den Schlüssel im Zündschloss drehte.
„Willst du ewig weiter laufen?" fragte er, während der Motor brummend zum Leben erwachte.
Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf Izumi's Gesicht aus, während Niragi die Handbremse zog und wieder ausstieg.
Sie verfolgte ihn mit ihrem Blick, als er plötzlich seine Aufmerksamkeit einem mattschwarzen BMW, ein paar Meter weiter, schenkte.
Er zog seine Waffe aus dem Hosenbund und schlug damit die Scheibe des Fahrerfensters ein, langte mit der Hand hindurch und öffnete die Tür von innen.
Dann stieg er ein, legte sich auf die Mittelarmlehne und zerrte einen schwarzen Rucksack von unter der Rückbank nach vorne.
Während Niragi den Rucksack über die Schulter schwang und die Autotür wieder zu schlug, stand Izumi noch immer beim alten VW und starrte ihn verwirrt an.
„Woher wusstest du dass da ein Rucksack drin ist?" fragte sie und zog nachdenklich die Stirn kraus.
„Das ist mein Auto" sagte Niragi nur, während er zu ihr zurück lief.
Izumi warf einen Blick auf sein Nummernschild. Seine vierstellige Nummer lautete 01-17, eine Zahlenkombination die ihr mit ziemlicher Sicherheit gerade seinen Geburtstag verraten hatte.
„Du wohnst hier?" fragte sie schließlich verblüfft und lenkte ihren Blick auf den Wohnkomplex.
„Kaum zu glauben dass ich nicht im Knast war oder?" fragte er grinsend, seine Stimme vor Sarkasmus triefend.
„Das war wohl eine berechtigte Annahme von mir" gab Izumi zurück und verschränkte die Arme.
Sie ließ ihren Blick noch einmal von seinem Auto, bis zu den Wohnungen schweifen und versuchte sich vergeblich vorzustellen, wie Niragi hinter einer dieser Türen schlief, Frühstück aß oder sich für die Arbeit fertig machte.
Der selbe Typ, der im Beach so vielen Menschen in den Kopf geschossen hatte, sollte auch einen normalen Alltag gehabt haben? Unmöglich.
Niragi folgte ihrem Blick und sagte dann:
„Los, du fährst."
„Ich?" fragte Izumi und schluckte, während er einmal um die Motorhaube herum zur anderen Seite lief.
„Ich kann schlecht Gas geben und bremsen" sagte Niragi, deutete auf sein rechtes Bein und stieg dann auf der Beifahrerseite ein.
„Sag nicht du hast keine Ahnung wie man fährt" fuhr er fort, während Izumi sich neben ihn auf den Fahrersitz setzte, das Unbehagen ins Gesicht geschrieben.
„Doch natürlich" antwortete sie pikiert und schlug die Tür zu.
Niragi schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite an, während sie sich alles im Armaturenbrett einmal genau anschaute. Izumi schluckte nervös und bemühte sich, seinem Blick nicht zu begegnen.
„Brauchst du Fahrstunden oder wird das noch was?" fragte er spöttisch und Izumi warf ihm nun doch einen bösen Blick zu.
„Hör auf mich zu hetzen" entgegnete sie gestresst.
„Wenn ich's nicht mache, dann macht es der Pik-König" warf Niragi ein und Izumi stöhnte auf.
Er grinste nur amüsiert, während sie langsam den Gang einlegte und schließlich endlich aus der Ausfahrt fuhr. Izumi hasste es Auto zu fahren, wenn ihr andere auf die Finger schauten.
Es war als hätte sie plötzlich alles vergessen, deshalb nahm sie auch nie jemanden mit. Niragi neben ihr im Auto, war also eines der schlimmsten Szenarios, die sie sich vorstellen konnte.
Während sie Richtung Setagaya-Bezirk fuhren, kramte Niragi in seinem Rucksack rum und zog schließlich ein paar Proteinriegel aus einem Fach. Ein paar Sekunden später hielt er eine Energydose in der Hand, öffnete sie mit einem Zischen und nahm ein paar Schlücke daraus.
„Fährst du immer so langsam?" fragte er nach einer Weile und Izumi warf ihm einen missgelaunten Blick zu.
„Bist du immer so ein nerviger Beifahrer?" fragte sie im Gegenzug und erntete damit einen belustigten Seitenblick von Niragi.
„Hast du eigentlich auch mal Spaß in deinem Leben?" fragte er dann nach einer Weile und sie fühlte sich augenblicklich angegriffen.
„Bei der nächsten Kreuzung schmeiß ich dich raus" fauchte sie ihn an.
„Ich bin nicht langweilig" fügte sie aufgebracht hinzu.
„Dann drück jetzt einfach mal aufs Gas" entgegnete er und Izumi warf ihm einen unsicheren Blick zu.
Sie zögerte ein paar Augenblicke, dann atmete sie geräuschvoll aus. Scheiß drauf, er hatte recht. Wovor sollte sie hier Angst haben?
Sie wandte ihren Blick wieder zurück auf die Straße vor sich, umklammerte das Lenkrand fest mit beiden Händen und drückte das Gaspedal komplett durch. Der Motor heulte auf und Adrenalin schoss durch ihren Körper, als die Umgebung um sie herum an den Fenstern vorbei flog.
Sie schoss über die größten Kreuzungen, ohne auf andere Autofahrer achten zu müssen, durch die Stadt, während ihr Herz ihr beinah aus der Brust sprang.
„Oh mein Gott" rief Izumi und musste anfangen zu lachen.
Wieso war es ausgerechnet Niragi, der in ihr immer wieder solche berauschenden Gefühle hervor rief?
Niragi warf einen Blick in den Rückspiegel, das Luftschiff des Pik-Königs war nur noch ein kleiner dunkler Fleck am Himmel schräg hinter ihnen. Den hatten sie erst einmal abgehängt.
Sie überquerten gerade die Grenze zum Setagaya-Bezirk, als er den Blick wieder nach vorne richtete und vor augenblicklich die Augen aufriss. Ein Mann rannte vor ihnen direkt auf die Straße, sein Gesichtsausdruck völlig gleichgültig.
Dann passierte alles viel zu schnell. Mit quietschenden Reifen bremste Izumi, die Schwerkraft zog sie ruckartig nach vorn, während der Mann mit einem lauten Splittern und Knirschen auf der Windschutzscheibe aufkam.
Schlingernd kamen sie zum Stehen, die Luft um sie herum erfüllt mit dem Geruch von verbranntem Gummi. Mit aufgerissenen Augen starrte Izumi auf den leblosen Körper vor sich auf dem Auto, das Lenkrad noch immer fest umklammert.
„Fuck, was für ein Vollidiot" lautete Niragi's einziger Kommentar als er ausstieg.
Izumi beobachtete ihn wie versteinert, als er den Typen vom Auto zog und sich schließlich kurz neben ihn auf den Boden hockte, um zu schauen ob er noch lebte.
„Der ist hinüber" lautete sein Urteil und Izumi schluckte.
Niragi lief wieder zurück zur Beifahrertür, griff nach seinem Rucksack und den Proteinriegeln und sagte dann:
„Was für ein Schwächling bringt sich selbst um."
„Warum glaubst du, er wollte sich umbringen?" fragte Izumi mit zitternder Stimme.
„Welcher Typ rennt auf die Straße wenn ein Auto mit 200 km/h an kommt?" stellte er ihr eine rhetorische Gegenfrage.
„Du bist schuld" sagte Izumi und riss zum ersten Mal ihren Blick von der zersplitterten Windschutzscheibe.
Niragi lachte nur spöttisch, schlug seine Autotür zu und tastete den Mann nach Waffen ab, während Izumi mit weichen Knien ausstieg.
In diesem Augenblick wäre sie gerne so abgestumpft wie Niragi, den das eben Geschehene scheinbar völlig kalt ließ. Ihr hingegen war dermaßen schwindlig dass sie sich an der Motorhaube festhalten musste.
„Mal gucken, ob du wenigstens nützlich bist" murmelte er der Leiche zu, während er Hosen- und Jackentaschen durchforstete.
Natürlich hatte hier fast jeder jemanden auf dem Gewissen, sei es indirekt oder nicht. Trotzdem war es für Izumi furchtbar zu wissen dass sie jemanden umgebracht hatte, Selbstmord hin oder her.
Sie atmete zitternd ein und aus und versuchte sich langsam zu beruhigen.
Triumphierend zog Niragi eine Pistole aus der Jackentasche des Mannes, sicherte sie und steckte sie dann in seine Hose.
Etwas in ihrem Augenwinkel, ließ Izumi den Blick von der Leiche heben und sie drehte sich ein wenig zur Seite. Am Himmel war das Luftschiff des Herz-Königs zu sehen, das plötzlich mit einer Explosion in Flammen aufging.
Auch Niragi hob jetzt den Kopf und beobachtete, wie es nach und nach in Einzelteile zerfiel, feurige Geschosse die Richtung Boden fielen.
Stimmengewirr erhob sich plötzlich, leise aber immer näher kommend, bis Izumi schließlich die Umrisse von mehreren Menschen ausmachen konnte, die aus der Richtung des Luftschiffs gerannt kamen.
„Nur noch zwei Spiele" bemerkte Izumi, ihren Blick noch immer auf die Überlebenden des Spiels gerichtet.
Niragi richtete sich wieder auf und lehnte sich dann an die Motorhaube, während er einen der Proteinriegel aus seinem Rucksack aufriss.
Er biss hinein und zog gerade das Papier ab, als Izumi ihm den Riegel blitzschnell klaute und in den Mund steckte. Niragi warf ihr einen eisigen Blick zu, schluckte seinen Teil runter und fauchte dann:
„Wir werden mutig, ja?"
Dann stellte er sich vor ihr hin, nahm ihr Gesicht unsanft in eine Hand und schaute sie wütend an, seine Augen zu Schlitzen verengt.
Izumi wandte ihren Blick nicht eine Sekunde von ihm ab, bis er schließlich genervt schnaubte und sie ruckartig los ließ.
„Nächstes Mal bring ich dich um" lautete seine lasche Warnung und ein kleines Grinsen stahl sich auf Izumi's Gesicht, eine kleine Sache konnte sie von dem Unfall ablenken.
War das ein Fortschritt dass er sie nicht mit dem Messer bedroht hatte? Er hatte es ihr förmlich durchgehen lassen.
Die Erinnerungen an gestern stürmten wieder auf sie ein und sie schloss für einen Augenblick die Augen. Das musste aufhören, sie durfte darüber nicht mehr nachdenken.
Niragi lehnte sich wieder zurück an die Motorhaube, die Erinnerungen an gestern und Izumi's Grinsen ignorierend. Er beobachtete ausdruckslos die Leute, die jetzt an ihnen vorbei über die Kreuzung liefen.
Einige davon schauten erschrocken auf die Leiche des Mannes und die zerschmetterte Windschutzscheibe, die meisten davon waren mittlerweile Schlimmeres gewöhnt.
„Niragi" sagte plötzlich eine Stimme und sofort stellten sich alle Haare auf Niragi's Körper auf.
Er drehte den Kopf zur Seite und plötzlich blieb ihm die Luft weg. Sein Herz schlug so schnell dass ihm schwindlig wurde und er spürte wie sich sein ganzer Körper versteifte.