Mit Mühe wuchtete ich meinen großen Koffer aus dem Auto und als ich ihn abgestellte, versanken seine Rollen sofort in einem Meer aus Kieselsteinen. Ich seufzte schwer.
Wenn ich dieses höllische Sommercamp schon jedes Jahr aufs Neue durchstehen musste, konnten die dann nicht wenigstens mal anständigen Asphaltboden hier verlegen? Musste dieser Ort denn wirklich bis ins kleinste Detail kräftezehrend sein!?
„Jimin mein Schatz.." Meine Mutter kam um das Auto herum und nahm mein Gesicht in ihre Hände „Jimin, ich bin so stolz auf dich, das weißt du, oder?"
Sie suchte meinen Blick, doch ich flüchtete mich schnell in eine Umarmung. Wenn ich jetzt ihren sorgenvollen Augen begegnen würde, wäre ich vielleicht nicht mehr in der Lage, meine Tränen zurückzuhalten. Sie wusste ganz genau wie sehr ich dieses Camp hasste und wenn sie irgendetwas an meiner Anwesenheitspflicht hier ändern könnte, dann würde sie das auf der Stelle tun.
Umso mehr musste ich mich jetzt zusammenreißen. Ihre Machtlosigkeit in dem ganzen Zirkus hier machte ihr schwer zu schaffen und sie durfte sich nicht meinetwegen schon wieder Vorwürfe machen.
„Ich weiß, dass du stolz auf mich bist Mama.... Mach dir keine Sorgen um mich ok? Ich schaffe das schon, ich habe es die ganzen letzten Jahre schließlich auch immer geschafft." Sie löste sich von mir und sah mich ein wenig skeptisch an, also fuhr ich unbeirrt fort: „Außerdem habe ich Tae und Jin, ich freue mich riesig die beiden endlich wiederzusehen!"
Tatsächlich waren die zwei mein Lichtblick in dieser alljährlichen Folterhölle. Die Miene meiner Mutter hellte sich ein wenig auf, als ich meine besten Freunde erwähnte und plötzlich lehnte sie sich nach vorne und gab mir einen ganz ekelhaft quietschenden Mama Schmatzer auf meine Wange.
Bis vor kurzem wäre mir das noch peinlich gewesen, aber mittlerweile war es zu einer Art Running Gag zwischen uns geworden und ich musste laut auflachen. Schnell umarmte ich sie noch ein letztes Mal fest und wandte mich dann ab.
„Bis bald Mama!" sagte ich so beschwingt wie möglich und eilte so schnell es mein Scheiß Koffer und die Kieselsteine zuließen, Richtung des riesigen Geländes. Bloß schnell weg, solange ich diese optimistische Stimmung noch aufrechterhalten konnte.
Am Ende der langen Zufahrt befand sich ein großes Gebäude. Es ragte schroff zwischen den Bäumen der Allee hervor. Die Fassade bestand halb aus grauem Beton und halb aus Glas. Auf dem Dach des Hauses stand in riesigen glühenden Lettern der Schriftzug „Enhanced".
Schön ist das Eingangsgebäude noch nie gewesen, aber es war von dem berühmtesten Architekten Koreas designt und schrie, wie alles in diesem Camp: „WIR SIND REICH, WICHTIG UND MÄCHTIG!"
Erneut musste ich seufzen. Ein weiterer Sommer in der Höhle der Löwen.
Enhanced war eine staatliche Organisation, die schon seit 15 Jahren berühmt für ihre Forschung im Bereich der medizinischen Gentechnik war.
Jedes Jahr aufs Neue lud sie die reichsten und mächtigsten Menschen Koreas ein und gab ihnen die Chance ihre Kinder mit einer Operation zu etwas ganz Besonderem zu machen. Was genau während des Eingriffes geschah, wurde streng unter Verschluss gehalten. Wir wussten nur, dass diese Prozedur nicht aus jedem automatisch ein Wunderkind machte. Man musste gewisse Anlagen oder Fähigkeiten mitbringen, die durch den Eingriff verstärkt werden konnten. Insgesamt gab es 300 Plätze und unterhalb der Bewerber, wurde je nach Talent und Potenzial entschieden, wer diese Chance bekommen würde.
Ich war damals einer der „Glücklichen" gewesen und hatte erst später bemerkt, dass mein Leben von diesem Zeitpunkt an nicht mehr mir selbst gehören würde. Nicht nur in meinem alltäglichen Leben bekam ich ständig Sonderunterricht für meine Gabe, ich bekam auch regelmäßig unangekündigte Besuche von „den Offiziellen", die nicht nur mich, sondern auch mein soziales Umfeld strengstens überwachten.
Zusätzlich musste ich jedes Jahr in dieses Scheiß Sommercamp, wo alle 300 „Sonderbegabte" aus meinem Jahrgang für 8 Wochen eingepfercht, ausgebildet und bewertet wurden.
Unser Rang am Ende des Aufenthaltes entschied nicht nur, wie unsere eigene berufliche Zukunft aussehen würde, sondern auch, wieviel Gehalt unsere Eltern im nächsten Jahr verdienen würden.
Sowohl mein eigenes Leben als auch das Leben meiner Mutter lag also in den Händen von „Enhanced".
Diese Realisation kam mir zwar bereits vor einigen Jahren, trotzdem schaffte der Gedanke daran immer wieder aufs Neue, meine Stimmung an einen Tiefpunkt zu befördern.
Geknickt betrat ich die große Eingangshalle. Die Inneneinrichtung war steril und glatt. Nichts an diesem Ort war einladend, aber da hier Anwesenheitspflicht herrschte, musste an ‚einladend' wohl auch kein Gedanke verschwendet werden.
Die adrett gekleidete Dame hinter der Anmeldung straffte sofort ihre Schultern, als sie mich erblickte. Ihre Augen huschten schamvoll zu Boden und sie machte einen verkrampften und leicht verängstigten Eindruck.
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Selbst ohne meine Gabe zu benutzten, wusste ich sofort, dass sie sich gerade krampfhaft auf ihre geistige Abwehr konzentrierte.
Alle hier wussten, dass ich ein Gedankenleser war. Jeder kannte mich. Einige vergötterten mich ... Aber die meisten fürchteten mich und wollten mich keine Sekunde in ihrer Nähe haben.
Die Hostess jedenfalls schien sichtbar verunsichert durch meine Ankunft. Während ich zu ihr herüberging, bewegte ich meine Gabe leichtfüßig auf ihr Bewusstsein zu und war doch ein wenig enttäuscht... Ihre Abwehr glich eher einem Flickenteppich, den ich ohne jegliche Mühe hätte beiseiteschieben können.
Natürlich tat ich das nicht, ich hatte mir angewöhnt, meine Gabe nur in Notfällen privat zu nutzen. Ich konnte nachvollziehen, wie sich die Leute in meiner Umgebung fühlen mussten und versuchte meine Fähigkeiten mit Bedacht einzusetzen.
„Guten Tag, mein Name ist Park Jimin" stellte ich mich unnötigerweise vor, aber man musste schließlich die Höflichkeit wahren.
„G..Guten Tag. Es steht alles für Sie bereit. Wie üblich sind jeder Hütte zwei Bewohner zugewiesen, dieses Jahr wohnen Sie in der Nummer 77." Sie reichte mir den Schlüssel und wandte so schnell es ging ihren Blick ab, zurück auf ihren Bildschirm.
Ich runzelte skeptisch die Stirn. „77? Ich hatte immer die 27... Ist Taehyung dieses Jahr wieder mein Mitbewohner?" Bei dem Gedanken, einen fremden Menschen als Mitbewohner haben zu müssen, schnürte sich plötzlich meine Kehle zu.
Scheiße, daran hatte ich gar nicht gedacht.
Wenn ich eines über dieses Camp gelernt hatte, dann, dass hier alle Mittel genutzt wurden, um jeden einzelnen von uns in den Wahnsinn zu treiben. Und was wäre bei einem introvertierten Außenseiter wie mir ein leichterer Hebel der Folter, als mir einen schrecklichen Mitbewohner zuzuweisen?
„Ähm also... ich weiß leider nicht, wer ihr Mitbewohner ist. Er kam bereits gestern an, da habe ich nicht gearbeitet."
... War der Computer vor ihr etwa nur Deko!? Wie schwer konnte es sein nachzusehen, wer in Hütte 77 wohnte!?
Aber ich beschloss mich damit zufrieden zu geben und machte mich auf den Weg, um einfach selbst nachzusehen. Die arme Frau konnte auch nichts für meine schlechte Laune, die ich in diesem Moment nur zu versucht war, an ihr auszulassen.
Unsere Unterkünfte waren einzelne „Hütten" (eher Häuser), die in einem riesigen Komplex aus Parks und geschwungenen Wegen angelegt waren. Ich suchte mich durch bis Nummer 77, was dank meines ausgeprägten Orientierungssinnes recht zügig von statten ging.
Skeptisch schritt ich die zwei Stufen der kleinen Veranda hoch und spähte durch die riesige Glasfront ins Innere.
Aber da war niemand... weder im unteren Stockwerk, was mit seiner offenen Küche und großem Wohnzimmer komplett einsehbar war von hier, noch auf der Galerie oben im zweiten Stock konnte ich jemanden erkennen.
Vielleicht war er in seinem Zimmer? Ich fasste mir ein Herz, öffnete die Tür und wuchtete zunächst meinen Koffer ins Wohnzimmer.
„Hallo?" rief ich vorsichtig in Richtung der Galerie. Ich kannte diese Hütten nur zu gut und wusste genau, dass es dort oben zwei Schlafzimmer, sowie ein Badezimmer gab.
Vielleicht war er auch im Bad?
„Hallo??" rief ich jetzt etwas lauter. Als ich mich gerade dazu entschloss hochzugehen und nachzusehen, flog hinter mir die Haustür auf und ich erschrak mich zu Tode.
„JIMINIIEEEE!" hörte ich die Stimme meines besten Freundes und fand mich nur Sekunden später in einer überschwänglichen Umarmung wieder.
Der Schreck legte sich sofort und ich musste erleichtert lachen „Tae! Willst du mich umbringen? Erschreck mich doch nicht so!"
„Ich hab dich so vermisst!" trällerte er an meinem Ohr.
„Ich dich auch" erwiderte ich und drückte ihn noch ein wenig fester an mich.
Schnell stellte ich die Frage, die mir auf der Zunge brannte: „Tae bitte sag mir, dass du dieses Jahr wieder mein Mitbewohner bist."
Stille.
„Taee?" meine Stimme war in meiner Panik eine Oktave höher gerutscht, was ihn glücklicherweise zum Lachen brachte. Wenn wir nicht Roomies wären, fände er das genauso wenig zum Lachen wie ich...
„Keine Sorge Chim, du musst es noch eine Weile mit mir aushalten."
„Gott Sei Dank!" Ein riesiger Stein fiel von meinem Herzen. Wenn Tae und ich hier unseren Rückzugsort hatten, würde ich dieses Camp mit Sicherheit psychisch relativ unbeschadet überstehen.
Tae löste sich von mir und sprintete auch schon die Treppe Richtung Bad rauf. „Warum kommst du überhaupt heute erst an? Wir müssen uns beeilen, hast du mal auf die Uhr geguckt? Gleich beginnt die Einführungsveranstaltung! Ich muss nur noch schnell Pip..." Und schon war er im Bad verschwunden.
Ja, die Einführungsveranstaltung ... Sie war der offizielle Beginn des Camps und ich war extra keine Sekunde früher hier aufgetaucht. Die meisten reisten bereits einen Tag vorher an, um sich einzurichten. Außerdem fand am Abend vor der Einführung immer ein großes Willkommensfest statt.
Dort nicht aufzutauchen, hatte ich zu einer festen Tradition gemacht. Ich mochte Partys nicht besonders, außerdem fühlten sich alle wohler, wenn ich nicht dabei war. Es war also eine win-win Situation, wenn ich fernblieb.
„Alles klar kann losgehen!" Taehyung Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Er wirbelte die Treppe herunter und hakte sich freudestrahlend bei mir unter. Dabei entging mir nicht, wie fabelhaft er wieder gekleidet war. Er trug eine wild gemusterte grün-rosa Jacke über einer gut sitzenden blauen Jeans und dazu ein knallrotes Stirnband. Er schaffte es immer die wildesten Sachen zu kombinieren und trotzdem verdammt gut damit auszusehen.
Zusammen machten wir uns auf den Weg Richtung Hauptversammlungsgebäude, das in der Mitte des Geländes lag. Die ‚Hütten' waren in einem Kreis um einen zentralen Gebäudekomplex geordnet, der die wichtigsten Räumlichkeiten des Camps beinhaltete. All unsere Trainings, Versammlungen und Unterrichtsstunden fanden dort statt.
Auf dem Weg tauschten Tae und ich zunächst die wichtigsten Neuerungen der letzten Wochen aus. So viel gab es allerdings nicht zu erzählen, da wir regelmäßig telefonierten und eigentlich bestens im Bilde über das Leben des anderen waren.
Am Gebäude angekommen reihten wir uns in die Menge der Schüler ein, die bereits in den Saal strömten. Zügig fanden wir unsere angestammten Plätze auf den hinteren Bänken.
Tae erzählte mir gerade eine süße Geschichte von seinem Hündchen Yeontan, als sich plötzlich ein Junge neben mir räusperte und eine weiche Stimme unsere Aufmerksamkeit auf sich zog „...Ähm, Entschuldigung?"
Who could it be!? 👀