抖阴社区

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Die Luft roch nach Rost, altem Stein und Moos. Flimmerndes Sonnenlicht durchbrach die Wolkenfetzen, während der Vogel durch ein zerborstenes Fenster glitt. Seine Flügel schlugen kaum hörbar in gleichmäßigem Rhythmus, ein Schatten zwischen Staub und Stille.

Das alte Gemäuer unter ihm war ein Irrgarten aus Hallen und Fluren, einst durchdrungen von Stimmen, Maschinen, Leben. Jetzt herrschte nur der Staub der Erinnerung. Der Vogel flog höher, durch eine gähnende Öffnung im Dach, schraubte sich in die Kuppel einer einstigen Produktionshalle – da sah er sie.

Zwei Gestalten.

Ein Bild wie aus der Zeit gefallen. Isa und Zeke.
Sie lagen auf dem kalten Boden, einander nicht berührend, und doch so seltsam nah. Als wären sie gemeinsam gefallen. Oder vielleicht: gemeinsam zur Ruhe gekommen.

Zekes Arme und Beine waren weit ausgestreckt, als wollte er der Welt nichts mehr entgegensetzen. Offen. Wehrlos. Ungewohnt friedlich.
Isa lag nicht weit von ihm entfernt, auf der Seite, ein Arm unter ihrem Kopf. Ihre Stirn wirkte entspannt, der Atem ruhig. Kein Zorn, kein Trotz, kein Schmerz zeichnete sie in diesem Moment.

Der Vogel kreiste einen Herzschlag lang über ihnen. Dann stieß er sich ab, stieg empor durch einen zerbrochenen Träger und hinaus in die Freiheit.

Draußen nahm ihn der Wind mit.
Über den verfallenen Innenhof hinweg, wo Unkraut zwischen den Steinen wuchs und die Mauerreste längst von der Natur zurückerobert wurden.
Er schraubte sich höher, das Gelände wurde kleiner unter ihm. Das Dach des Gebäudes eingefallen, wie ein zerdrückter Schädel. Der Ort war alt. Vom Wind gegerbt, von der Geschichte gezeichnet.

Dann flog der Vogel weiter. Über ein rostiges Tor, das nur noch an einer Seite hing.
Ein Weg schlängelte sich durch Gestrüpp und altes Geröll – einst eine Straße, nun kaum mehr zu erkennen.
Die Ränder gesäumt von zerschmolzenem Asphalt, ausgebleichten Schildern, deren Buchstaben vom Regen fortgetragen worden waren.

Und schließlich erreichte der Vogel die Stadt.

Oder das, was davon übrig war.

Zwischen zerfallenen Fassaden und eingerissenen Dächern wehte der Wind durch leere Fensterhöhlen. Autos standen regungslos in den Straßen, von Moos überwuchert und eingefallen wie ausgehöhlte Schädel.
Schilder hingen schief. Ein Café, dessen Fenster einst voller Lichter waren, war nun ein düsterer Riss im Beton.

Keine Bewegung. Kein Rauch. Kein Feuer. Kein Mensch.

Nur Stille. Und der Klang der Flügel, der über die leblosen Dächer hallte.

Der Vogel flog weiter. Über einen eingestürzten Turm, an dem einst eine Uhr gewesen sein musste. Ihre Zeiger lagen zersplittert auf dem Pflaster, von Efeu umwuchert. Die Zeit stand hier nicht still – sie war längst vergangen.

Und dennoch, irgendwo, tief unter all dem Schweigen, vibrierte etwas.
Ein Echo von dem, was war.
Ein Flüstern der Geschichten, die sich in diesen Mauern abspielten.
Der Schmerz. Die Hoffnung. Die Gewalt. Die Wahl.

Der Vogel ließ die Stadt hinter sich. Trug mit seinen Flügeln einen letzten Blick zurück – zu den beiden im Gemäuer. Dem Jäger und seinem Opfer.
Dem Mann mit den dunklen Augen, der nicht wusste, ob er sie töten oder retten wollte.
Und dem Mädchen mit dem wilden Blick, das zwischen Wut und Mitgefühl zerrissen war.

Ein stummes Bild, festgehalten im Moment.
Doch die Zeit würde weiterziehen.
Und mit ihr – unausweichlich – die Entscheidung.

Der Wind nahm zu, zerrte an den zerbrochenen Dächern, fuhr durch verrostete Stahlträger und ließ alte Bleche klappern wie ferne Glocken. Der Vogel glitt darüber hinweg – ein stummer Beobachter einer Welt, die ihren Atem längst ausgehaucht hatte.

Nichts regte sich in den verlassenen Vororten. Die Bäume standen wie Statuen, entlaubt und knorrig, die Fenster leer, die Türen versiegelt von der Zeit. Die Stadt war wie eingefroren im Moment des Vergehens. Kein Kindergeschrei, kein Hundebellen, keine Stimmen. Kein Herzschlag. Kein Leben.

Bis auf zwei.

Dort, tief im Bauch eines Gebäudes, das einmal Lachen und Maschinenlärm kannte, schliefen sie.

Zeke. Der Wächter.
Der Letzte seines Standes.
Verloren zwischen Erinnerung und Wahn.
Einst erschaffen, um Ordnung zu bewahren.
Jetzt ein Mann mit Blut an den Händen, Staub in der Seele und einer Stimme im Kopf, die ihn höhnte, wenn er zu schwach war, um noch zu kämpfen.

Und Isa.
Ein Mädchen, das nicht hätte existieren dürfen.
Zart gebaut, aus einer anderen Zeit gefallen – in eine Welt, die für ihresgleichen kein Zuhause mehr kannte.
Ein Mensch. Ein echtes Herz. Warme Haut, heißes Blut.
Sie hatte ihn geschlagen, gekratzt, gebissen.
Ihn gehasst. Ihn verschont.

Sie hätte ihn töten können. Und er hatte es gewusst. Ja – er hatte es gewollt. Vielleicht war das der letzte Rest Menschlichkeit, den er noch in sich trug: der Wunsch, dass jemand anderes das Ende für ihn bestimmte.
Aber Isa hatte nicht genug zugedrückt. Ihre Hände waren stark gewesen, ihre Wut ehrlich. Doch ihr Herz … war noch immer das eines Mädchens.

Der Vogel schwebte wieder über das Gelände.
Kreiste über den Innenhof, der wie ein leeres Auge zum Himmel starrte.
Und dort unten – durch eine Ritze im Dach sichtbar – lag Zeke noch immer ausgestreckt. Die Glieder von sich gestreckt, als wolle er sagen: Nimm mich, Welt. Ich habe nichts mehr zu geben.

Neben ihm Isa, zusammengerollt wie ein Wesen, das nie gewollt war, zu kämpfen. Und doch hatte sie es getan.

Ein seltsames Bild.
Ein Mann, der nicht mehr glaubte, dass es Erlösung gab.
Ein Mädchen, das sich weigerte, selbst zu einer zu werden.

Der Vogel landete auf einem Stahlträger, der sich über den Innenhof spannte. Seine Krallen klackten leise auf dem Metall. Er legte den Kopf schief, betrachtete die beiden reglosen Körper.

Wie war das möglich?

Er hatte es gesehen – wie alles Leben verschwunden war.
Die Städte zerfielen, die Wälder starben. Die Maschinen verstummten. Der Wächter blieb zurück. Nur Zeke war geblieben.
Er, der nie losließ. Der nie vergaß.
Der alles mit sich nahm – die Pflicht, den Wahnsinn, die Erinnerungen.

Aber jetzt war da Isa.
Ein warmes Herz in kalter Zeit.
Ein Fehler im System.

Oder ein Wunder?

Der Vogel schwang sich wieder in die Lüfte, das Gefieder vom Staub grau gefärbt. Er ließ Zeke und Isa zurück in ihrem stillen Niemandsland, flog über Felder aus Schutt, über Gerippe aus Glas und Stahl.

Und während er weiterzog, trug er die einzige Frage, die noch übrig war, mit sich:

Woher kam dieses Mädchen – in einer Welt, in der niemand mehr kam?

No Way Out | Eine Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt