Ein grelles Brummen zerriss die Totenstille.
Isa schrak hoch. Ihr Herz hämmerte wie wild, plötzlich wach, als hätte ihr Körper das Adrenalin förmlich aufgesogen. Sie sog keuchend Luft ein, taumelte auf die Beine und wankte zum zersplitterten Fenster.
Sie lugte hinaus – vorsichtig, die Hände an den bröckelnden Putz gepresst – und da war es:
Ein Motorrad rollte langsam durch die verlassene Straße.
Nicht schnell, nicht laut, aber bedrohlich in seiner Trägheit.
Als würde es keinen Grund zur Eile sehen. Als wüsste es, dass es alles Zeit der Welt hatte.
Die Gestalt darauf war groß. Breit gebaut, verborgen unter einem dunklen, schweren Umhang, dessen Kapuze tief ins Gesicht gezogen war. Kein einziger Zug war zu erkennen. Nur die Silhouette.
Und die wirkte... unheimlich vertraut.
Zekes Kleidung fiel Isa ein.
Diese Schichten aus Leder, Metall und Stoff, die wirkten wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Auch dieser Reiter trug etwas Ähnliches.
Doch es war nicht identisch.
Oder?
War es wirklich Zeke?
Ihr Blick fiel auf das Motorrad selbst.
Es sah aus, als hätte jemand es in einer endlosen Wüste aus Sand und Rost zusammengebaut – eine Mischung aus Schrottplatz, Mechanik und Magie.
Massive Räder, mit groben Ketten bespannt, schnitten sich über den Asphalt. Die Verkleidung bestand aus alten Blechplatten, die von Lederbändern und metallenen Zahnrädern zusammengehalten wurden.
Über dem Tank ragte eine Art gläserner Behälter empor, in dem es schwach bläulich leuchtete – als würde etwas darin leben.
Dampf zischte aus einer seitlichen Öffnung, und irgendwo tickte etwas, gleichmäßig, bedrohlich.
Der Fahrer hob leicht den Kopf und sah direkt zu ihr.
Isa duckte sich reflexartig unter das Fensterbrett, hielt die Luft an, presste die Hand auf den Mund.
Ihr ganzer Körper war angespannt.
Sie hörte, wie der Motor weiter brummte, dann kurz stockte...
...und schließlich wieder leiser wurde, als das Motorrad weiterfuhr.
Ein Zittern ging durch sie.
Nicht nur aus Angst, sondern aus Unsicherheit.
War es Zeke?
Oder jemand anderes?
Etwas anderes?
Langsam wagte sie einen weiteren Blick hinaus – doch die Gestalt war verschwunden. Die Straße lag wieder still da, als sei nie etwas geschehen.
Aber Isa wusste, dass etwas geschehen war.
Etwas hatte sich verändert.
Etwas... war nun mit ihr hier.
Und es wusste, wo sie war.
Isa verharrte reglos hinter der zerborstenen Fensterbank. Ihre Knie zitterten leicht. Der erste Schub Adrenalin hatte sich zurückgezogen und ließ ihren Körper nun nur umso schwerer zurück. Schweiß perlte ihr von der Stirn, obwohl der Raum kalt war.
Noch war alles still.
Aber das war es immer gewesen.
Diese Welt war eine Welt der Stille, der Leere und doch war da immer etwas gewesen, das sich bewegte, das beobachtete. Sie hatte es gespürt, seit sie in dieser toten Stadt war.
Jetzt war es nicht mehr nur ein Gefühl. Jetzt war es real. Da draußen fuhr jemand. Jemand, der wusste, wo sie war.
Sie konnte nicht hier bleiben.
Isa zwang sich, den dünnen Mantel enger um ihren ausgemergelten Körper zu ziehen. Ihre Muskeln protestierten, als sie sich langsam aufrichtete. Ihre Kehle war trocken, ihre Lippen spröde. Sie musste weiter.
Egal, was da draußen war – sie konnte nicht warten, bis es zurückkam.
Nicht wehrlos. Nicht hier.
Sie trat vorsichtig aus dem dunklen Raum auf den Flur. Überall lagen Trümmer und Abfall verstreut. Die Tapete hing in nassen Lappen von den Wänden. An einer Stelle bewegte sich etwas unter einem alten Teppich. Isa wich instinktiv einen Schritt zurück, schüttelte sich, fasste sich aber wieder.
Sie erreichte die Tür zum Erdgeschoss und spähte hinaus.
Nichts.
Langsam, Schritt für Schritt, trat sie auf die Straße. Ihre Augen wanderten ständig in alle Richtungen. Hinter jede Ecke, auf jedes Dach, jede Bewegung zwischen Schatten und Dunst.
Der Fahrer war nicht mehr zu sehen. Kein Motorengeräusch, kein Flackern der Lichter am Fahrzeug. Nichts.
Aber Isa vertraute dem Frieden nicht.
Sie duckte sich, hielt sich dicht an den Wänden, schob sich durch verlassene Tore, unter kaputten Markisen hindurch, zwischen Autos hindurch, die aussahen, als hätten sie seit Jahrzehnten niemanden mehr gesehen.
Sie musste ein neues Versteck finden. Etwas, das tiefer lag.
Vielleicht ein Keller. Oder ein Tiefgaragenkomplex.
Irgendetwas, das einen Fluchtweg hatte und nur einen Eingang, den sie im Blick behalten konnte.
Die Angst nagte wie eine Ratte an ihrem Verstand.
Und obwohl sie völlig allein war, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden.
Nicht laut. Nicht feindlich.
Aber konstant.
Wie ein Atem im Nacken.
Wie ein Blick im Dunkeln.
Die rostigen Gitter der Eingangstreppe zur U-Bahn bogen sich leicht unter ihrem Gewicht, als Isa sie hinabstieg. Mit jeder Stufe wurde es kühler, feuchter, und die Geräusche der toten Stadt über ihr verloren sich in dumpfer Ferne.
Der letzte Lichtstrahl verschwand, als sie um eine Ecke bog.
Finsternis umfing sie – dicht wie Stoff.
Ein Hauch modriger Luft wehte ihr entgegen, vermischt mit dem Geruch von altem Eisen, Schimmel und dem längst vergessenen Leben.
Isa tastete sich vorsichtig an der Wand entlang, bis sie mit der Schulter gegen etwas Metallenes stieß. Eine rostige Werbetafel, daneben eine durchsichtige Scheibe, in der einmal ein Plan gesteckt haben musste.
Was immer hier früher stand, war von der Zeit gefressen worden.
Das einst farbige Halteschild über der Bahnsteigkante war nur noch eine blasse Erinnerung, kaum mehr als ein abgeplatzter Farbrest auf rissigem Emaille. Kein Name, keine Orientierung.
Nur Stille.
Die Rolltreppen standen still.
Eine einzelne Taube flatterte auf und ließ Isa erschrocken zusammenzucken.
Dann war es wieder ruhig.
Sie tastete sich tiefer in die Station hinein, stieg die letzte Treppe zum Bahnsteig hinab und fand schließlich einen halb umgestürzten Fahrkartenautomaten.
Sie zog ihre Jacke enger, kauerte sich daneben und lehnte den Kopf kurz an das kalte Metall.
Ihr ganzer Körper vibrierte vor Erschöpfung.
Das leichte Sirren in ihrem Kopf war zurück. Hunger.
Durst.
Der Druck in der Brust, der seit Tagen nicht mehr verschwunden war.
Aber hier war es ruhig.
Hier war es sicher.
Vorerst.
Sie würde sich nur kurz ausruhen. Nur ein wenig.
Gerade als sie die Augen schloss, hörte sie es.
Ein fernes, regelmäßiges Tropfen. Wasser irgendwo in der Dunkelheit.
Und dann – war da nicht ein leichtes Echo?
Ein Geräusch, das nicht von ihr gekommen war?
Sie hielt den Atem an.
Lauschte.
Nichts.
Vielleicht war es nur ihr Verstand, der ihr erneut Streiche spielte.
Oder aber... jemand war ihr tatsächlich gefolgt.
Langsam kroch sie weiter zur Wand, verbarg sich zwischen alten Infotafeln und einem zerbrochenen Mülleimer. Ihre Finger zitterten, als sie den Dolch ertastete, den sie noch immer bei sich trug.
Der Dolch, den Zeke ihr gegeben hatte.
Oder vielmehr – den sie ihm genommen hatte.
Isa schloss die Augen einen Moment.
Was, wenn er es war?
Was, wenn er...?
Doch das Tropfen blieb das Einzige, das die Stille füllte.
Für jetzt.
Die Dunkelheit der U-Bahn-Station lag wie eine bleierne Decke über Isa, schwer und fast greifbar. Sie hatte sich zwischen rostigen Automaten und zerfallenen Bänken eingerichtet, den Rücken gegen kalten Beton gelehnt, die Knie angezogen. Ihre Augen waren halb geschlossen, der Schlaf so nah, dass er schon an ihren Gedanken zerrte.
Da war es wieder.
Zuerst kaum hörbar.
Ein tiefes Brummen, vibrierend wie ein ferner Donner.
Isa blinzelte, horchte auf. Ihr Körper spannte sich.
Dann wurde aus dem Brummen ein motorisches Knurren, das sich durch die alten Schächte fraß wie ein Raubtier durch Gestrüpp.
Metall hallte.
Die Vibration durchdrang den Boden, jagte ihr wie Strom die Wirbelsäule hinauf.
Motorengeräusche.
Schneller, lauter.
Nahe.
Sie sprang auf.
Ihre Muskeln schrien vor Erschöpfung, aber die Angst machte sie wieder beweglich. Sie blickte zum Tunneleingang. Ein fahles Licht flackerte aus der Richtung, aus der sie gekommen war.
Scheinwerfer.
"Nein", keuchte sie.
"Nein, nein, nein."
Sie rannte los.
Weg von der Station, weg vom Licht, hinein in die Schwärze des Schachts.
Die Schienen unter ihren Füßen quietschten leicht bei jedem Schritt, lose Steine rollten unter ihren Schuhen, ließen sie zweimal stolpern. Beim dritten Mal fiel sie hart auf die Knie, riss sich die Handflächen auf. Der Dolch glitt ihr aus der Tasche.
Keine Zeit.
Sie rappelte sich auf, Blut lief über ihre Finger. Sie hob den Dolch auf und rannte weiter. Ihre Lunge brannte. Der Scheinwerfer war jetzt deutlich sichtbar – gleißendes, künstliches Licht, das die Tunnelwand zuckend in silbrige Flächen verwandelte.
Das Motorrad kam näher.
Der Lärm war ohrenbetäubend in dem engen Schacht.
Der Motor klang, als wäre er aus der Hölle geschmiedet worden – tief, brüllend, lebendig.
Isa schrie. Nicht laut. Ein kehliges, erschöpftes, hilfloses Keuchen.
Sie wusste nicht, ob sie weglief, weil sie glaubte, dass sie überleben könnte oder weil das Fliehen alles war, was ihr blieb.
Dann – eine Abzweigung.
Ein kleiner, dunkler Versorgungstunnel, kaum breiter als sie selbst.
Sie warf sich hinein, rollte gegen eine rostige Wand, schlug mit dem Kopf leicht an die Kante eines Rohres. Ihr Atem ging stoßweise, keuchend.
Dann kam der Moment, der ewig dauerte.
Das Motorrad raste vorbei.
Nur einen Meter entfernt.
Der Lärm vibrierte durch ihre Knochen. Der Lichtkegel zuckte kurz an ihrem Versteck vorbei, berührte sie beinahe.
Dann war es wieder dunkel.
Nur das Echo blieb.
Isa kauerte sich zusammen, hielt den Dolch fest umklammert. Ihre Finger krampften sich darum, bis die Knöchel weiß wurden.
Das Zittern ihres Körpers war nicht mehr nur Erschöpfung – es war der blanke, nackte Schrecken.
Was zur Hölle war hier los?
Wer fuhr durch eine tote Stadt mit einem Steampunk-Motorrad durch U-Bahn-Schächte?
Isa lag am Boden des Versorgungstunnels, zusammengekauert wie ein verängstigtes Tier. Ihr Atem ging stoßweise, jeder Herzschlag pochte schmerzhaft gegen ihre Schläfen. Die Dunkelheit drückte schwer auf ihre Lider, Schwindel flutete sie wellenartig, heiß und kalt zugleich.
Nur kurz, flüsterte sie sich zu.
Nur einen Moment.
Sie schloss die Augen, vergrub das Gesicht in dem schmutzigen Mantel. Ihre zerschundenen Hände hielten den Dolch umklammert, aber sie wusste, dass sie keine Kraft mehr hatte, ihn zu führen. Ihre Beine zitterten. Jeder Muskel rebellierte gegen die Flucht.
Die Geräusche des Motorrads verklangen. Nur ihr Atem war zu hören.
Ein leises Summen irgendwo in ihrem Kopf.
Ein Moment Ruhe.
Etwas veränderte sich.
Ein kalter Lufthauch wehte durch den Tunnel.
Ein leises Knirschen.
Ein dumpfer Schritt.
Isa öffnete die Augen.
Und ihr Blut gefror.
Im Eingang des Versorgungstunnels stand er.
Der Fahrer.
Braun gekleidet, reglos, eine Silhouette vor der Dunkelheit. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, das Licht der Schachtröhre warf nur flache Schatten über ihn, ließ ihn wirken wie eine gestaltgewordene Bedrohung. Das Gesicht war nicht zu erkennen – nur Schwärze dort, wo Augen hätten sein sollen.
Isa keuchte. Ihre Finger krallten sich fester um den Griff des Dolchs.
Aber sie konnte sich nicht rühren.
Nicht aufstehen.
Nicht schreien.
Der Fremde machte einen Schritt.
Dann noch einen.
Langsam, genüsslich.
Isa begann rückwärts zu kriechen, rutschte mit dem Rücken über kalten Beton, weg von der Silhouette, weg von der Angst.
Tränen traten ihr in die Augen.
„Bitte... bitte tu mir nichts..." flüsterte sie, dann lauter:
„Bitte! Ich... ich weiß nicht, was hier passiert! Ich will nur... ich will einfach nur nach Hause!"
Ihre Stimme zitterte, brach fast.
Der Fremde hielt inne.
Etwas Kleines, Leichtes sprang auf ihren Bauch.
Isa kreischte panisch auf und warf die Arme hoch. Der Dolch flog gegen die Wand.
Ihr Herz hämmerte wie wahnsinnig.
„Ach Maurice... du hast alles kaputt gemacht", erklang plötzlich eine enttäuschte, aber auch ziemlich bekannte Stimme.
Die Silhouette hob die Hand, riss sich die Kapuze vom Kopf. Eine Schutzbrille flog klirrend auf den Boden.
Zeke.
Er funkelte die kleine Maus auf Isas Bauch wütend an. „Gerade wo ihre Stimme so süß am Zittern war..."
Sein Grinsen war so schief wie sein Blick. Er legte den Kopf zur Seite.
„Hallo Isa. Doch ganz schön gruselig für ein kleines, einsames Mädchen hier draußen, was?"
Isa starrte ihn an, völlig überfordert zwischen Panik und Erleichterung.
Ihr Atem war immer noch unkontrolliert, ihr Körper zitterte.
Maurice quiekte und rollte sich entspannt auf ihrem Bauch zusammen.
Zeke verschränkte die Arme.
„Na los. Sag, dass du dich gefreut hast, mich zu sehen. Ich war immerhin dramatisch genug."
Sein Blick wanderte über sie.
„Hübsch verwahrlost übrigens. Steht dir."
Isa rang um Worte. Aber der Knoten in ihrer Kehle war zu dick.
Zeke grinste.
Er hatte sie gefunden. Und er wusste ganz genau, dass er das Spiel wieder in der Hand hatte.
Zeke stand in der Tunnelöffnung, die Dunkelheit im Rücken, das Licht auf Isa gerichtet wie ein Scheinwerfer auf die Hauptdarstellerin seiner ganz eigenen Inszenierung. Und sie war perfekt. Zitternd, erschöpft, mit gebrochener Stimme, als wäre sie geradewegs aus einem Albtraum in seine Arme gefallen.
Er hätte beinahe applaudiert.
Das Flehen in ihrem Blick – dieses Aufblitzen von echtem Schrecken – es hatte sich tief in ihn hineingefressen wie der erste Biss in warmes Fleisch nach Tagen ohne Nahrung.
Er hatte es genossen.
Jeden Moment.
Jedes Wort, das sie unter Tränen gestammelt hatte.
Isa. Stark, trotzig, schlagkräftig und doch so menschlich in ihrer Angst. So herrlich verletzlich.
Er hätte sich beinahe verliebt, wenn das nicht so widerlich romantisch geklungen hätte.
„Weißt du..." sagte er gedehnt, während er langsam auf sie zuging, „Maurice hat dich so vermisst."
Er machte eine bedeutungsschwangere Geste mit der Hand, als würde es sich dabei um einen hochrangigen Diplomaten handeln. „Da mussten wir uns natürlich auf die Suche begeben."
„Maurice?" hauchte sie mit bebenden Lippen, ihre Stimme kaum hörbar.
Zeke schnalzte mit der Zunge. „Unwichtig, Isa." Er winkte nachlässig ab. „Wir sollten uns eher über deinen Zustand unterhalten. Verhungerst du gerade oder verdurstest du? Hab gehört – beides eher... unschön."
Er hockte sich vor sie, sein Blick glitt langsam über ihr bleiches Gesicht, den feinen Schweiß auf ihrer Stirn, das matte Flackern in ihren Augen.
Oh ja, das waren Symptome.
Und das Spiel näherte sich dem Wendepunkt.
Vorsichtig hob er Maurice von ihrem Bauch. Die kleine Maus zappelte kaum, verkroch sich sofort wieder in seiner Kleidung, wo sie hingehörte – als stiller Zeuge und treuer Zuhörer seiner Gedanken.
Isa war still.
Verbraucht.
Viel zu still.
„Ich könnte dich wieder mitnehmen...", raunte er schließlich, und ließ seine Stimme absichtlich weich klingen, beinahe liebevoll. „Dir zu essen geben. Trinken. Eine warme Dusche vielleicht."
Er beobachtete sie ganz genau. Wie ihre müden Gedanken versuchten, seine Worte zu greifen.
Wie sich Hoffnung und Misstrauen in ihrem Blick mischten wie Blut in Wasser.
Dann neigte er sich näher. Sein Grinsen wurde schmaler. Düsterer.
„Allerdings gehörst du dann mir."
Oh, wie allein dieser Satz ihn mit einem warmen Prickeln durchzog. Der Gedanke daran, sie zurückzubringen. Verletzt, schwach – aber in seinen Armen.
Sein.
Ganz.
Allein.
Sein Herz schlug schneller.
Nicht aus Liebe.
Sondern aus Hunger.
Nach Kontrolle. Nach diesem funkelnden Etwas in ihren Augen, wenn sie zwischen Angst und Widerstand zerrieben wurde.
Er betrachtete sie, die zerrissene Isa, wie ein Künstler sein Meisterwerk.
Und wartete.
Auf das kleinste Zeichen.
Einen Widerspruch.
Eine Träne.
Oder – wenn er Glück hatte – das leise, gebrochene „Ja".
Sie schwieg.
Wie ein Stein.
Wie ein leeres Blatt, das er nicht lesen konnte und das machte ihn wahnsinnig.
Ein leises Knirschen war das Einzige, das zwischen ihnen lag: der Schotter unter ihren Körpern, das ferne Tropfen irgendwo in der Tiefe des Tunnels, ihr Atem, flach und vorsichtig.
Zeke starrte sie an, eine Weile regungslos, als könne er ihren Willen einfach durch pure Präsenz brechen.
Dann lächelte er wieder. Dieses typische, schiefe Grinsen, das so oft schon Türen geöffnet hatte. Beine auch.
„Du bist wirklich zäh, Isa. Das gefällt mir. Echt. Aber..."
Er richtete sich langsam auf, streckte sich theatralisch, als sei das hier nur ein lauer Sommertag, an dem man entscheiden musste, ob man lieber Eis oder Kaffee wollte.
„Ich kann dir Dinge geben, weißt du?" Seine Stimme wurde weicher, schmeichelnd.
„Ein Bett. Kein hartes Pflaster mehr. Weiche Decken, mit Kissen, die nicht nach Ratten stinken." Er machte eine wegwerfende Geste. „Essen. Warm, gewürzt – keine Dosen, kein Dreck. Vielleicht sogar ein bisschen Musik. Erinnerst du dich an Musik?"
Er sah sie dabei ganz genau an.
Sie bewegte sich nicht.
Aber ihre Augen zuckten.
Ein Zeichen.
„Und eine Dusche", fuhr er fort, wie ein listiger Händler auf einem Marktstand. „Mit heißem Wasser. So heiß, dass du dich wieder wie ein Mensch fühlst. Nicht wie ein umherirrendes Gespenst."
Er ließ sich langsam wieder auf den Boden sinken, diesmal neben ihr. Nah, aber nicht zu nah.
Sie roch nach Schweiß, nach Schmutz, nach Angst und dennoch fand er, dass sie schöner aussah als die meisten Frauen, die sich freiwillig an ihn herangeschmissen hatten. Vielleicht war es das Feuer in ihr. Vielleicht war es das Zerbrochene.
Oder vielleicht... war es genau diese Stille, die er endlich brechen wollte.
„Weißt du, was du außerdem bekommen würdest, wenn du mit mir kommst?" fragte er nun, beinahe verschwörerisch.
Er zeigte auf sich selbst und zog eine Augenbraue hoch.
„Mich. Als Gesellschaft."
Ein verschmitztes Zwinkern folgte.
„Ich weiß, das ist fast schon ein unanständiges Angebot, Isa, aber du bist hier draußen allein. Hilflos. Und ich bin..."
Er breitete die Arme aus.
„...gut aussehend, charmant, leicht wahnsinnig, aber wenigstens unterhaltsam."
Er lehnte sich ein Stück näher zu ihr, seine Stimme kaum noch mehr als ein raues, schmeichelndes Flüstern.
„Du bist allein, Isa. Ganz allein. Wer sagt da schon nein zu jemandem wie mir?"
Er lachte leise.
„Komm mit mir. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen. Und wenn doch..."
Ein Schulterzucken.
„...dann hast du wenigstens warm geduscht, bevor du's tust."
Dann wurde er still. Wartete. Sah sie an, als könne er ihren Entschluss in den Schatten ihrer Augen lesen.
Nur ein Nicken, ein Laut, irgendein Zeichen, dass er sie langsam wieder in den Griff bekam.
Doch Isa sagte noch immer nichts.
Und mit jedem Moment, in dem sie ihn ignorierte, wurde sein Drang stärker – nicht sie zu retten, sondern sie zu knacken.
Isa bewegte sich langsam.
Ein angestrengter Atemzug, ein Schmerzenslaut, kaum mehr als ein Wispern. Dann hob sie den Kopf, schielte zu ihm – ihre Lippen trocken, ihr Blick verschmiert vom Schweiß und Staub der letzten Tage. Und doch blitzte da etwas in ihren Augen auf.
„Weißt du, Zeke..."
Ihre Stimme kratzte wie Sandpapier.
„...für jemanden, der so verdammt stolz auf sein Aussehen ist, redest du erstaunlich viel darüber."
Sie schleppte sich auf die Ellenbogen, ließ den Kopf zurück an die Wand sinken.
„Und diese ganzen großartigen Dinge, die du mir versprichst?"
Sie sah ihn mit halb geschlossenen Lidern an, ein Lächeln zog sich trocken über ihr Gesicht.
„Klingt exakt wie Stockholm-Syndrom. Nur mit einer Wärmflasche."
Zeke blinzelte. Dann grinste er.
„Na endlich spricht sie wieder. Ich hatte schon Sorge, ich müsste dich wirklich retten, ohne vorher einen letzten Spruch zu kassieren."
„Wenn du mich retten willst, dann tu's. Aber spar dir das Werbungsgesülze", keuchte Isa. „Ich hab Albträume, die subtiler flirten als du."
Ein Moment Stille. Dann lachte Zeke laut auf, voller echter Belustigung.
„Oh, Isa... du machst mir das wirklich schwer, dich nicht zu heiraten."
Isa rollte mit den Augen.
„Zeke. Ich habe nicht mal genug Energie, um dir eine reinzuhauen. Aber wenn ich sie wieder hab..."
„Dann bist du die erste, die mich heiratet, ich weiß."
„Dann bist du der Erste, der fliegt."
Zeke grinste nur noch breiter, stand langsam auf und reichte ihr eine Hand.
„Na komm, mein zynisches kleines Kunstwerk. Bevor du mir hier vor Hunger stirbst, das wäre wirklich ein verschwendetes Ende für deine scharfe Zunge."
Isa starrte auf seine ausgestreckte Hand.
Sie bebte nicht. Weder ihre noch seine. Nur die Luft zwischen ihnen flackerte, geladen von Worten, die mehr waren als bloße Fragen. Sie waren Bedingungen. Herausforderungen. Ultimaten.
"Du sagst, wenn ich mitkomme, gehöre ich dir. Was bedeutet das?"
Ihre Stimme war rau, aber getragen von klarem Willen. Sie ließ sich nicht brechen. Noch nicht.
Zeke lächelte. Kein sanftes Lächeln – es war ein gefährliches, spitzes Grinsen, das keinen Trost versprach.
„Nun, zunächst heißt das, dass ich dir die wunderschönsten goldenen Ketten anlegen werde."
Er griff hinter sich, und wie aus dem Nichts zog er eine filigrane Kette hervor, deren Glieder im trüben Licht funkelten wie etwas aus einer anderen Welt. Kein grobes Eisen, kein schäbiges Seil – es war Schmuck. Und doch war klar: Sie war nicht zum Tragen gedacht. Sie war zum Binden gemacht.
„Denn ich glaube fest daran, dass du mich umbringen wirst, sobald du wieder bei Kräften bist."
Sein Grinsen vertiefte sich.
„Darum... goldene Ketten. Für mein kleines Raubtier."
Isa schluckte trocken. Sie war zu schwach, um aufzustehen, aber nicht zu schwach, um zu denken.
„Und weiter?" fragte sie. „Was kostet es mich, dass du mich mit allem versorgst, was ich brauche? Was heißt es, dein zu sein?"
Ihre Augen waren schmal. Klug. Gefährlich. Auch aus dem Dreck heraus war sie noch zu stolz, zu zäh, um einfach zu kuschen.
Zeke betrachtete sie für einen Moment, dann ließ er sich wieder in die Hocke sinken. Maurice, der sich in seinem Kragen versteckt hatte, wagte einen neugierigen Blick über Zekes Schulter.
„Was es heißt, mein zu sein?" wiederholte er.
Die Kette klimperte leise in seiner Hand. Er ließ sie durch seine Finger gleiten, fast andächtig.
„Es heißt..." begann Zeke langsam, seine Stimme beinahe schmeichelnd, „...dass du meine Nähe erträgst, selbst wenn sie dich aufregt. Es heißt, dass ich dich berühren darf, wenn ich dir Wasser reiche. Dass du mir deinen Blick nicht mehr verweigerst, nur weil du mich verfluchst. Es heißt nicht, dass ich dich breche, Isa. Dafür bist du mir viel zu unterhaltsam"
Er neigte den Kopf zur Seite.
„Es heißt, dass du bei mir bleibst. Auch wenn du dir sicher bist, dass du bessere Gesellschaft verdient hättest. Es heißt, dass du aufhörst zu fliehen, Isa. Und vielleicht... irgendwann... bedeutet es, dass du mir glaubst, wenn ich sage, dass ich dich nicht sterben lasse."
Zeke beugte sich näher, sein Blick auf ihren bebenden Lippen.
„Und ich werde dich versorgen. Mit allem, was du brauchst. Nahrung, Schutz... Nähe. Vielleicht sogar Antworten, wenn ich wirklich in großzügiger Stimmung bin. Aber es gibt ein Wort, das du ab diesem Moment nicht mehr kennen darfst."
Er hob einen Finger, als wolle er es ihr an die Stirn schreiben:
„Freiheit.
Isa verzog das Gesicht.
„Also eine hübsche Art, Besitzanspruch auf eine sterbende Frau zu erheben."
„Eine wunderschöne Art", korrigierte Zeke grinsend und hob die goldene Kette ein wenig höher.
„Aber keine Sorge, ich mach das Ganze auch romantisch, wenn du willst. Mit Kerzen. Und Blut. Und vielleicht einer Rose aus rostigem Stahl."
Isa schnaubte schwach.
„Du bist irre."
„Ich bin Zeke."
Er zuckte mit den Schultern.
„Aber wenn du mich nicht willst..."
Er stand auf, drehte sich halb, als wolle er wirklich gehen.
„Warte."
Das Wort kam leise, aber deutlich.
Zeke hielt inne. Ohne sich umzudrehen, sagte er:
„Dann sag es. Sag, dass du mit mir kommst."
Isa ließ den Kopf gegen die Wand sinken. Die Welt drehte sich. Ihr Magen war ein brennendes Vakuum. Sie konnte nicht mehr. Sie wollte nicht sterben – nicht hier, nicht allein.
„Ich komme mit dir", sagte sie schließlich – und sah zu, wie sich Zekes Schultern entspannten.
Er drehte sich wieder zu ihr um, das Grinsen diesmal ehrlicher, wärmer – zumindest für einen Moment.
„Gute Entscheidung, Isa. Die Welt da draußen ist ein hässlicher Ort. Ich hingegen..."
Er zwinkerte.
„...bin immerhin dekorativ."
Dann reichte er ihr endlich wieder die Hand. Und diesmal nahm sie sie.
Isa sagte kein Wort, während sie seine Hand hielt – die gleiche, die sich zuvor fast wie ein Versprechen vor sie gestreckt hatte. Ihre Finger waren kalt, fast leblos in seiner warmen, doch alles an ihm war lebendig. Zu sehr. Zu intensiv.
Zeke hatte das Funkeln in ihren Augen gesehen. Nicht das Funkeln der Freude, sondern das von Müdigkeit, Misstrauen und – trotz allem – einer leisen Neugier. Er führte sie zu einem schattigen, halb eingestürzten Mauerrest am Rand der U-Bahnstation. Dort ließ er sich nieder, zog einen kleinen Beutel hervor und holte sie erneut hervor: die goldene Kette.
Isa beobachtete, wie er sie auffächerte. Die Glieder wirkten fast zu zerbrechlich für einen Zweck wie diesen. Keine Handschellen. Kein Metall, das schwer an den Gelenken zog. Sondern etwas Schönes. Etwas, das nicht nur binden, sondern gleichzeitig auch zieren sollte. Schmuck und Kontrolle in einem. Genau Zekes Stil.
Er sah zu ihr auf. Sie erwiderte den Blick stumm, während er die Kette anhob, als würde er sich vergewissern, dass das Licht sie richtig traf. Dann nahm er ihr rechtes Handgelenk – langsam, ohne Druck, als würde er prüfen, ob sie zurückzuckte. Doch Isa hielt still. Ihr Blick war starr auf seine Finger geheftet, während er die Kette um ihr Handgelenk legte. Erst um das eine, dann um das andere.
Es war beinahe zärtlich. Seine Bewegungen ruhig, fast andächtig. Das kalte Metall schloss sich wie ein Versprechen um ihre Haut. Kein Klacken, kein grobes Rucken. Nur das leise Rascheln der Glieder gegeneinander, das Klingen wie leises Lachen aus Gold.
Isa atmete flach. Sie sagte nichts. Doch ihr Inneres schrie in einem seltsamen Durcheinander aus Warnung und... Faszination.
Zeke sah das Gliedstück an, das jetzt lose über ihrem Puls lag.
„Siehst du?" murmelte er leise, sein Blick noch immer auf ihr Handgelenk gerichtet. „Schön, nicht wahr? Wie für dich gemacht."
„Du gibst dir ganz schön Mühe, um Besitzansprüche hübsch zu verpacken", sagte sie mit rauer Stimme.
Zeke grinste. „Ich bin ein Ästhet. Ich kette keine Frau, die ich mag, mit rostigem Schrott an."
Sie wollte etwas erwidern, doch der Moment hing zu schwer zwischen ihnen. Inmitten dieser toten Welt, vor Hunger halb vergehend, war da plötzlich wieder etwas: eine andere Art des Überlebens.
Zeke erhob sich.
„Komm. Gold steht dir gut, aber noch besser siehst du nach einer warmen dusche aus."
Isa antwortete nicht.
Zeke drehte sich zu ihr um, als sie noch mit gesenktem Blick auf das feine Gold an ihren Handgelenken starrte.
„Jetzt wird's ernst, Sonnenschein," murmelte er, griff nach der Kette und zog sanft, aber bestimmt daran.
Isa zuckte leicht zusammen, ließ sich jedoch führen. Wortlos. Die Müdigkeit war nicht verschwunden, doch etwas an der Situation ließ sie innerlich aufhorchen, vielleicht die Art, wie er sie nun mit einem Blick musterte, der nicht mehr ganz so verspielt war. Kein Flirt. Eine Warnung.
„Motorrad. Drauf." Er nickte mit dem Kopf in Richtung der Maschine, die in der Nähe stand. Sie sah aus, als sei sie aus Sand geboren worden – rostige Metallplatten, improvisierte Rohre, ein Scheinwerfer, der mehr nach Auge als Lichtquelle aussah. Alles daran war roh, improvisiert, ungeschliffen. Und doch wirkte es, als hätte das Ding eine Seele.
Isa blieb stehen.
Zeke hob amüsiert die Braue. „Du willst doch nicht ernsthaft zu Fuß weiter? Ich mein ... ich schleif dich auch hinterher."
Widerwillig ging Isa auf das Motorrad zu. Zeke war schneller. Bevor sie aufsteigen konnte, nahm er das lose Ende der Kette und befestigte es an einem schmalen Haken an seinem Gürtel. Es war nicht fest verspannt, doch lang genug, um ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken – genau richtig, um ihr klarzumachen, was Sache war.
„Nur für den Fall, dass du während der Fahrt plötzlich heldenhafte Ideen bekommst", sagte er mit einem schiefen Grinsen.
Isa schnaubte verächtlich. Doch sie schwieg.
Zeke schwang sich auf den Sattel, streckte ihr die Hand hin. Zögernd nahm sie sie und stieg hinter ihm auf. Das Leder unter ihr war rau, der Sitz hart. Kein Komfort. Nur Zweckmäßigkeit. Er roch nach Metall, Rauch und etwas, das man nicht benennen konnte. Etwas Unruhiges und zugleich erschreckend gutes.
Dann ruckte das Motorrad, als Zeke den Zündmechanismus betätigte. Der Motor erwachte mit einem tiefen Grollen, das durch die stillen Straßen donnerte wie ein Donnerhall in einer Welt ohne Himmel.
In der ersten Sekunde des Anfahrens schwankte Isa leicht und griff instinktiv zu. Ihre Finger krallten sich in den Stoff seiner Jacke, klammerten sich an den einzigen festen Punkt, den sie hatte. Zeke bemerkte es sofort. Er sagte nichts. Aber er lächelte. Zufrieden. Sie mochte nicht „Ja" gesagt haben, aber ihre Hände sprachen eine eigene Sprache.
Der Fahrtwind kam schnell. Die Kette klirrte leise bei jeder Bewegung, ein goldenes Flüstern zwischen zwei Körpern, die auf seltsame Weise aneinander gebunden waren – nicht durch Vertrauen, nicht durch Zuneigung.
Aber durch Notwendigkeit. Und durch einen Mann, der nicht vorhatte, sie wieder gehen zu lassen.
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Na was hättet ihr an Isas Stelle gemacht?
Ihr wärt alle sofort Zekes Eigentum geworden, hab ich recht?
Ich lese schließlich eure Kommentare und weiß, wie viele sich von euch hier eine Lovestory wünschen ;) Habt ihr denn Isa mal danach gefragt?